Die aktuelle Tragweite des Ambivalenten
9. Mai 2012
Vortrag im Rahmen des Konstanzer Kulturwissenschaftlichen Kolloquiums
Prof. em. Dr. Kurt Lüscher (Konstanz/Bern) lehrte von 1971 bis 2000 Soziologie an der Universität Konstanz. Ab 1989 war er Leiter des Forschungsschwerpunkts „Gesellschaft und Familie“.
Kurzbeschreibung
Der ursprünglich in der Psychiatrie entwickelte Begriff der Ambialenz hat mittlerweile in die Alltagssprache und in zahlreiche wissenschaftliche Diskurse Eingang gefunden, insbesondere auch in den Kulturwissenschaften, allerdings oft ohne genaue inhaltliche Bestimmung. Lassen sich mittlerweile ein gemeinsamer Bedeutungskern und tragende Dimensionen ausmachen? Wie kann man die Idee theoretisch fundieren? Meine Antworten auf diese Fragen münden in den Vorschlag, das "Ambivalente" als ein methodologisches Konstrukt zu verstehen, das insbesondere auch für disziplinenübergreifende Analysen nützlich sein kann.
Inhaltsübersicht
Ausgangspunkt meines Referats ist die quasi selbstverständliche Nutzung des Begriffs der Ambivalenz in zahlreichen wissenschaftlichen Diskursen und in der Umgangssprache. Was steckt hinter dieser Popularität? Lässt er sich über diese hinaus als ein präzises Konzept definieren und nutzen? Verweist die weite Verbreitung auf eine besondere Eignung für interdisziplinäre Analysen?
Dazu stelle ich folgende These zur Diskussion: Die Fruchtbarkeit der „Idee der Ambivalenz“ für sozialwissenschaftliches, kulturwissenschaftliches und interdisziplinäres Arbeiten lässt sich besonders gut entfalten, wenn sie als ein „heuristisches Konstrukt“ genutzt wird. Diese These erläutere ich in fünf Schritten.
Ich beginne – erstens – mit einer kleinen Übersicht über die Topoi und Dimensionen, die in der Begriffs- und Diskursgeschichte erkennbar sind. In pragmatischer Absicht nutze ich diese in zweifacher Weise: als Empirie, also als „Erzählung“ an sich, und im Blick auf die Sachverhalte, die forschend erfasst und analysiert worden sind.
Auf dieser Grundlage und den darin enthaltenen Verweisen schlage ich – zweitens – eine elaborierte Definition von Ambivalenz vor. Sie benennt die konstitutiven Dimensionen und beinhaltet im Kern die Aussage, dass Menschen die Fähigkeit haben, Ambivalenzen zu erleben und zu erfahren sowie zu benennen und zu gestalten. Diese Fähigkeit lässt sich mit der Analyse der Konstitution individueller und kollektiver Identitäten verknüpfen. Ich plädiere also für eine analytisch offene, differenzierte Sichtweise von Ambivalenz – im Unterschied zum umgangssprachlichen Verständnis, das darin meistens eine unerwünschte Belastung sieht.
Der dritte Schritt führt zur Frage, ob es im Feld der Sozial- und Kulturwissenschaften allgemeine Theorien gibt, unter die ein derartiges Verständnis von Ambivalenz subsumiert werden kann, m.a.W. an welche allgemeine Theorien das Konzept anschlussfähig sein könnte. Nach einem kurzen Exkurs der menschenbildlichen Implikationen werde ich diese Frage in der gebotenen Kürze unter Bezugnahme auf die philosophische Anthropologie (Plessner), die pragmatistische Theorie von Identität, Sozialität und Perspektivik (Mead) erörtern und kurz auf weitere Möglichkeiten verweisen.
Daraus leite ich in einem vierten Schritt den Vorschlag ab, die Idee der Ambivalenz mit den aktuellen Bemühungen um eine „Theorie der Praxis“ zu verknüpfen und dementsprechend vom „Ambivalenten“ primär als einer methodologischen Orientierung bzw. einem „heuristischen Konstrukt“ zu sprechen.
In einem fünften Schritt werde ich anhand von Beispielen diesen Vorschlag erläutern. Im Ausblick werde ich unter Bezugnahme auf den Titel meines Referats erläutern, worin ich die mehrfache Aktualität des Ambivalenten sehe.
Zum Referat wird eine Tischvorlage abgegeben. Texte und Downloads zum Thema finden sich unter www.kurtluescher.de.
Texte und Downloads zum Thema finden Sie auf der website www.kurtluescher.de.
Mi, 9. Mai 2012, 18 Uhr s.t.
Universität Konstanz, Raum Y 311
Kontakt
Judith Zwick judith.zwick[at]uni-konstanz.de